Heinz Rudolf Kunze besingt sein „Deutschland“
„Ich suche mich mehr in Worten als in Werken“
Er ist ein überzeugter Rockmusiker, ein rebellischer Geist und ein phantasievoller Romancier. Er liebt Pop, Politik und Poesie. Er versteht sich auf Märchen, Musical und Moritat. Da wirkt das obige Zitat fürwahr wie sympathisches Understatement. Wer einen Blick ins Internet wirft, kann sich einen ungefähren Überblick davon verschaffen, wie gewaltig sein Werk inzwischen ist (nicht umsonst unter dem Signum „Werkzeug“ geführt). Hier findet man über 400 Songs und mehr als 1600 Texte gelistet, wobei Heinz Rudolf Kunze freimütig einräumt, dass er noch jede Menge unveröffentlichte Songs und Texte in seinen Schubladen hat. Wie dem auch sei, für sein neues Studioalbum „Deutschland“ hat sich der Musiker auf seine jüngsten Songtexte besonnen, frei nach dem Motto „die frischesten stehen einem doch am nächsten“. Eins vorweg: Es ist ein wahres Prachtwerk an Ideen, Themen und Ausflügen in unterschiedlichste stilistische Gefilde geworden. Von Kindheitserinnerungen über Generationenkonflikte bis hin zu Gedanken übers Altern, Lieder über die Herkunft und die Heimat, über Freundschaft und Liebe, Kunst und Religion, Verlust und Verrat.
Heinz Rudolf Kunze kann auf eine 35-jährige Musikerkarriere zurückblicken. Eine Zeit, in der er mittlerweile 35 Alben veröffentlicht hat, inklusive all jener mit seiner Band Räuberzivil, bei der er seit einigen Jahren eine zweite musikalische Heimat gefunden hat und mit der er eher balladesk und entspannt auf den Spuren von Bob Dylan und Randy Newman, von Leonard Cohen und Townes Van Zandt wandelt. Bei seinen stilistisch noch variableren Alben unter seinem Namen vertraut Kunze auf seine Mitstreiter von der Verstärkung, so der Name seiner Begleitband, die stets in den kreativen Prozess der Albumproduktion eingebunden ist. Da ist Jens Carstens, der langjährige Schlagzeuger, der sich in den letzten Jahren auch bei anderen Projekten als patente rechte Hand hervorgetan hat. Aber auch die anderen drei Musiker von Verstärkung, der Bassist Leo Schmidthals, Keyboarder Matthias Ulmer und Gitarrist Peter Koobs, machen bei diversen Kompositionen ihren Einfluss geltend und haben bei den insgesamt 14 Aufnahmen (zwei weitere Bonus-Titel gibt es noch auf einer Sonder-Edition) für frischen Wind gesorgt.
Das Album „Deutschland“ überrascht gleich mit einem unerwarteten Covermotiv. Zu sehen ist eine Straße in einer x-beliebigen Vorstadtsiedlung mit kleinbürgerlichen Einfamilienhäusern und ein paar Baustellen am Straßenrand. Ein Cover, das definitiv mehr Fragen aufwirft als gewöhnlich. Ist dies das Deutschland, mit dem wir uns identifizieren? Oder gar eines, vor dem uns graut? Ist diese Straße Zuflucht oder will man aus ihr fliehen? Was haben die Baustellen zu bedeuten? Was kann man von einem Album erwarten, dessen Covermotiv uns schon zum Nachdenken anregt?
Der musikalische Einstieg ins Album ist von prägnanter Wucht. Am Anfang war der Blues: „Es ist in ihm drin“ glänzt als gut geerdeter Cocktail aus Muddy Waters und John Lee Hooker. Der Song trägt autobiographische Züge, ohne es an allgemeinem Identifikationspotential missen zu lassen. Zudem bildet dieser musikalisch wie thematisch den Kern der Persönlichkeitsbildung, die frühen Initiationen im Leben symbolisierende Song gemeinsam mit dem gegen Ende auftauchenden „Ich möchte anders sein“ eine inhaltliche Klammer, ist letztgenannter doch das humorvolle Psychogramm eines jugendlichen Vorstadtrebellen. Zu dem Song eines Adoleszenten, der aus dem Alltagsgrau seiner Umgebung und den kleinbürgerlichen Verhältnissen ausbrechen will, passt ein beherzter Rock’n’Roll-Shuffle natürlich ausgezeichnet.
„Zu früh für den Regen“ erscheint zunächst wie ein recht erratischer Songtext, auch wenn hier warme Westcoast-Gitarren eine harmonische Atmosphäre verbreiten. Wer jedoch die beiden Protagonisten des Songs, einen Arzt und einen Priester, genauer betrachtet und sich ein wenig in Weltliteratur auskennt, wird erkennen, dass Kunze hier Albert Camus’ existenzialistischen Klassiker „Die Pest“ geschickt in einen Songtext verpackt hat. Ein wenig Pate hat hier in gewisser Weise auch Bob Dylan gestanden, dessen oft schwer zugänglichen Texte Kunze schon immer bewundert hat.
Sehr plastisch und nachvollziehbar liest sich dagegen der Songtext zu „Die Alte Piccardie“, benannt nach jener Volksschule in Georgsdorf an der niederländischen Grenze, in der Kunze die ersten zwei Jahre zur Schule ging und wo er vom eigenen Vater unterrichtet wurde. Der Song mit seinen leicht beatlesken Harmonien respektive der wohltemperierten George-Harrison-Gitarre verstärkt den retrospektiven Charme dieser Kindheitserinnerungen, die Kunze selbst leicht ironisch „seinen auf sechs Minuten komprimierten Marcel-Proust-Moment“ nennt. Auslöser für den Song über die Alte Piccardie, die in einem aus einer Straße bestehenden Dorf liegt, wo die Zeit bis heute still zu stehen scheint, war aber ein weiterer bewunderter Künstler. „Ich hatte eine Phase dieses Jahr, in der ich sehr viel Van Morrison gehört habe. Ich hatte das Gefühl, dass ihm Heimat, Herkunft und das mystische Irland sehr viel bedeuten und da bin ich auf die Idee gekommen, ich mache auch mal ein Heimatlied.“ Es ist ihm in beeindruckender Weise gelungen.